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Das Missverständnis mit der Moralkeule: „Das ist nicht gewaltfrei!“

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Das Missverständnis mit der Moralkeule: „Das ist nicht gewaltfrei!“

– Warum dieser Satz ein Paradox ist und wie wir besser damit umgehen können –

Gewaltfreie Kommunikation ist keine Technik, sondern eine Haltung. Und manchmal ist der Satz „Das ist nicht gewaltfrei“ genau das, was uns voneinander trennt.

Lies hier, wie wir stattdessen Brücken bauen können.

Wer sich ein bisschen in der Welt der Gewaltfreien Kommunikation (GFK) bewegt, hat ihn vielleicht schon gehört: „Das ist nicht gewaltfrei.“ Klingt irgendwie nach einer klaren Bewertung. Woher kommt dieser Satz, was steckt dahinter und warum kann er im Sinne der GFK selbst schon wieder eine Form von Gewalt sein?


Was ist überhaupt „Gewalt“?

Marshall Rosenberg, der Begründer der GFK, hat nie nur Schläge oder körperliche Gewalt gemeint, wenn er von „Gewalt“ sprach. Er unterschied drei Ebenen:

  1. Gedanken – z. B. wenn ich Menschen in Kategorien einteile, bewerte und verurteile oder bestrafen möchte
  2. Sprache – wenn Worte Abwertung, Urteile oder Druck transportieren und wir die Verantwortung für unsere Gefühle abgeben („Ich fühle mich, weil Du…“)
  3. Handeln – wenn eine Tat dazu führt, dass Bedürfnisse nicht berücksichtigt werden.

Die zentrale Frage ist:

Führt mein Denken, Sprechen oder Handeln dazu, dass Bedürfnisse (meine oder die anderer) zu kurz kommen? Da das sehr individuell sein kann, wann bei wem Bedürfnisse zu kurz kommen, lässt sich 100 % Gewaltfreiheit kaum erreichen. *„Das ist nicht gewaltfrei“* ist selbst wieder eine Bewertung, also nach Rosenbergs Definition nicht gewaltfrei.


Worte oder Haltung – worauf kommt es an?

Viele Einsteiger in die GFK denken am Anfang, es gehe um bestimmte Formulierungen oder gar eine Art sprachliche Checkliste. Aber Rosenberg betonte immer wieder: Es geht nicht um die richtigen Worte – es geht um die Haltung dahinter.

Das bedeutet:

  • Ich bin für meine Absichten und mein Handeln verantwortlich, nicht für die Reaktion des anderen.
  • Ich kann in gewaltfreier Absicht handeln – und es kann trotzdem beim Gegenüber „nicht gewaltfrei“ ankommen.
  • Umgekehrt kann eine äußerlich gleiche Handlung aus einer völlig anderen Haltung kommen (und dann sehr gewaltvoll sein).

Das macht es so knifflig, anhand einer Handlung von außen zu urteilen, ob sie „gewaltfrei“ ist oder nicht. Das ist vielen Menschen nicht bewusst.


Bedürfnis und Strategie – ein entscheidender Unterschied

Wenn jemand sagt: „Das ist nicht gewaltfrei“, steckt dahinter oft mehr als bloße Kritik. In der Sprache der GFK handelt es sich meist um eine indirekte Aufforderung – also eine Strategie, die ausdrückt: „Etwas soll anders gesagt oder getan werden.“

Doch Strategien sind vielfältig, individuell und kontextabhängig. Auf einer tieferen Ebene jedoch verbindet uns etwas Universelles: unsere Bedürfnisse. Sie sind der eigentliche Antrieb unseres Handelns. Und selbst wenn wir uns über Strategien uneinig sind – über Bedürfnisse können wir uns begegnen.

Hinter dem Satz „Das ist nicht gewaltfrei“ steckt also oft der Schmerz, dass bestimmte Bedürfnisse nicht gesehen oder erfüllt werden. Das Urteil ist dann nur das Symptom – der Wunsch nach gesehen, verstanden und berücksichtigt werden ist die eigentliche Botschaft.


Macht/Gewalt in der GFK – Schützend vs. Bestrafend

Ein klassisches Beispiel verdeutlicht, wie sehr Haltung den Unterschied macht:

  • Schützende Anwendung von Macht: Du siehst ein Kind auf die Straße rennen und hältst es gewaltsam fest. Dein Ziel ist Schutz. Danach erklärst du dem Kind ruhig, warum du gehandelt hast, und suchst wieder Verbindung.
  • Bestrafende Anwendung von Macht: Dasselbe Szenario, nur schickst du das Kind danach allein ins Zimmer „zur Strafe“.

Ob eine Handlung also wirklich im Sinne der Gewaltfreien Kommunikation geschieht, erkennt man nicht allein daran, wie sie nach außen wirkt. Entscheidend ist, ob die handelnde Person neben den eigenen auch die Bedürfnisse der anderen im Blick hatte. Dass das nach außen oft nicht sichtbar ist, macht es verständlich, warum eine Handlung zunächst als „nicht gewaltfrei“ erlebt wird – besonders dann, wenn sich jemand mit den eigenen Bedürfnissen gerade nicht gesehen fühlt.


Warum wir manchmal „zurückfallen“

Markus Fischer beschreibt in seinem Buch „Die neue GFK“ in Anlehnung an das Persönlichkeitsmodell Spiral Dynamics von Clare W. Graves, dass wir GFK je nach Entwicklungsstufe sehr unterschiedlich verstehen und anwenden und darüber stolpern:

  • Magische Phase: GFK als Allheilmittel – löst alle Konflikte (stimmt natürlich nicht!)
  • Egozentrische Phase: eigene Bedürfnisse werden konsequent erfüllt, ohne die Bedürfnisse anderer zu berücksichtigen.
  • Konformistische Phase: Bedürfnisse anderer werden altruistisch berücksichtigt und dabei bleiben eigene Bedürfnisse auf der Strecke.
  • Rationale Phase: Die Methode wird als technisch-mechanisches Regelwerk ohne empathische Haltung sich und anderen gegenüber angewendet.
  • Pluralistische Phase: Konflikte werden beschönigt und eigene Werte nicht klar vertreten. Konflikte werden zugunsten einer (Schein-)Harmonie vermieden und es wird so getan, als könnten immer die Bedürfnisse aller berücksichtigt werden.
  • Integrale Phase: Hier werden alle vorherigen Stufen gewürdigt und integriert. Die GFK entfaltet erst hier ihre vollständige Wirkung als Haltung und reifes Kommunikationssystem. Allerdings wird dabei gerne übersehen, dass die vorherigen Stufen oftmals noch nicht vollendet sind. Alle Stufen müssen zunächst vollständig durchlaufen werden.

In Stress oder Konflikten rutschen wir oft zurück in frühere Phasen. Der Satz „Das ist nicht gewaltfrei“ weist häufig auf die magische oder pluralistische Phase hin – und hat oft die Wirkung einer „moralischen Keule“, die auf Kosten der eigentlich gewünschten Verbindung geht.


Das Dilemma der Sprache

Rosenberg warnte immer vor sogenannter statischer Sprache – also Formulierungen mit „sein“, „müssen“, „nicht dürfen“, „sollen“. Warum?

Weil sie kategorisieren, Druck ausüben, Verantwortung abgeben und letztendlich trennen. „Das ist nicht gewaltfrei“ teilt die Welt in „gewaltfrei“ und „nicht gewaltfrei“ – der erste kleine Schritt raus aus der Verbindung.


Wie können wir es besser sagen?

Die gute Nachricht: Es gibt einen Ausweg, ohne in Selbstzensur oder in „Ich darf das nicht sagen“ zu rutschen (was selbst wieder Gewalt gegen uns wäre).

Wir können für den Selbstausdruck das berühmte 4-Schritte-Modell der GFK nutzen:

  1. Beobachtung – Was habe ich konkret wahrgenommen? (Fakten ohne Bewertung)
  2. Gefühl – Was löst das emotional in mir aus?
  3. Bedürfnis – Welche Bedürfnisse sind davon betroffen?
  4. Bitte – Was wünsche ich mir von meinem Gegenüber?

Statt: „Das ist nicht gewaltfrei!“ könnte das heißen:

„Als ich gerade gehört habe, wie du X gesagt hast, war ich irritiert und auch etwas traurig. Mir ist wichtig, dass wir uns zuhören und respektvoll miteinander sprechen. Wärst du bereit, es nochmal zu formulieren?“

„Ich habe gerade mitbekommen, dass du X entschieden hast. Ich bemerke, dass ich da enttäuscht und auch traurig bin, weil mir wichtig ist, dass die Anliegen aller Beteiligten miteinbezogen werden. Wärest du bereit mir zu erklären, wie du zu dieser Entscheidung gekommen bist?“

Der Unterschied?
Wir bleiben im Kontakt, statt ein Urteil zu fällen.


Wie können wir auf so einen Satz reagieren?

Es gibt natürlich auch in diesem Fall die andere Perspektive. Wenn jemand den Satz „Das ist nicht gewaltfrei“ äußert, lohnt es sich, innezuhalten und hinter die Worte zu schauen. Meist steckt kein Vorwurf als Selbstzweck dahinter, sondern ein Anliegen, das gesehen, verstanden und ernst genommen werden möchte.

Die Gewaltfreie Kommunikation bietet uns dafür das hilfreiche Werkzeug der Empathischen Vermutung: Aus einer Haltung von Neugier und Verbindung heraus versuche ich, zwischen den Zeilen zu hören, was mein Gegenüber gerade bewegt – und frage behutsam nach, zum Beispiel:

  • Bist du gerade enttäuscht und wünschst Dir ein wertschätzendes Miteinander?
  • Bist du aufgebracht und möchtest die Sicherheit, dass die Bedürfnisse aller berücksichtigt werden?
  • Bist du traurig, weil dir ein achtsamer, respektvoller Umgang wichtig ist?
  • Bist du irritiert und willst nachvollziehen, wie es zu dieser Entscheidung kam?

So entsteht ein Gespräch, das nicht an der Oberfläche des Urteils stehen bleibt, sondern zu einem achtsamen Kontakt führt – dort, wo echtes gegenseitiges Verstehen möglich wird.


Fazit

  • 100 % Gewaltfreiheit gibt es oft nicht – und das ist okay.
  • Gewaltfreie Kommunikation lebt von der Haltung, nicht von den „richtigen Worten“ oder einer bestimmten Handlungsweise.
  • „Gewaltfrei“ kann definiert werden als mit meinen Bedürfnissen und die von anderen verbunden.
  • Manchmal stoßen unsere Ressourcen oder Kreativität an Grenzen, Strategien zu finden, die alle Bedürfnisse miteinbeziehen.
  • Der Satz „Das ist nicht gewaltfrei“ ist meist selbst nicht gewaltfrei.
  • Wenn wir uns an Rosenbergs 4 Schritte halten, steigen die Chancen enorm, dass wir gehört werden und in Verbindung bleiben.
  • Wenn es uns gelingt, auf herausfordernde Sätze empathisch zu reagieren, kann die Verbindung aufrecht erhalten bleiben.

Am Ende geht es auch hier nicht um „richtig & falsch“, sondern darum, immer wieder den Weg zurück in die Verbindung zu finden – zu uns selbst und zu anderen.

by Alexio Schulze-Castro

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